Angefeuert von planvoll beschleunigten Rhythmen wogen die Tänzer der kollektiven Ekstase entgegen. Dem Puls der Basslinie hingegeben, ahnen sie nichts von der Gefahr unter ihren Füßen. Doch der Tanzboden ist mit Sprengsätzen und druckempfindlichen Zündern präpariert, wenn der Taumel seinen Höhepunkt erreicht, sollen sie alle sich selbst in die Luft sprengen.
Seit sechs Jahren schildert der Autor und Musiker Albrecht Kunze in verschiedenen Variationen die gegenseitige Durchdringung von Krieg und Popkultur. Die Hörstücke "The Big Beat" (BR 1996) und "Golfkrieg Girls & Boys" (BR 1997) erzählten von einer Tanztruppe für Krisengebiete, die beim Fronteinsatz ins Kriegsgeschehen verwickelt wurde. "space is the place" (WDR 2001) verpackte Reflexionen über den Raum und die Wirkungen von Sound in eine Geschichte über akustisch-militärische Versuche.
"The Homecoming Concert" (HR 2001) war eine musikalische Studie über soldatisches Pathos. Das jüngste Stück schließlich, "ich auf der Tretmine", blendet Tanz und Terror ineinander und handelt von der Sehnsucht nach Auflösung und der Angst vor Kontrollverlust. Genuss und die Zerstörung von Körpern seien zwei Seiten derselben Tanzfläche, hieß es schon in "Golfkrieg Girls & Boys". Dabei greifen Kunzes Konfrontationen von Pop und Krieg tiefer als das einschlägige Bild vom "Tanz auf dem Vulkan".
Der Tanz dient ihm als Metapher für territoriale Machtkämpfe. Analogien von Tanzschritten und Truppenbewegungen, die zunächst bizarr, weit hergeholt, ja dekadent wirken mögen, geben die Perspektive vor, aus der die Stücke Verflechtungen von Militär- und Entertainment-Strategien sowie die von Medien geprägte Wahrnehmung des Krieges beleuchten. "Das Schlachtfeld war von Anfang an ein Wahrnehmungsfeld", schrieb Paul Virilio in seiner Studie "Krieg und Kino", in der er unter anderem beschreibt, wie Kriegsflieger und -filmer die Ästhetik der beweglichen Kamera im Unterhaltungsfilm revolutioniert haben.
Der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler bezeichnete Unterhaltungsindustrie generell als "Missbrauch von Heeresgerät". Kunze knüpft unausgesprochen an solche Thesen an, indem er die Richtung gewissermaßen umkehrt, seine Figuren von der Bühne an die Front schickt und über ihre militärische Verstrickung und Verantwortung reflektieren lässt. Die Stücke parodieren Verschwörungstheorien und streuen ihrerseits neue. Wir waren eine tanzende Informationseinheit, heißt es in "ich auf der Tretmine", und in fast allen Stücken taucht der Verdacht auf, daß Gesangsnummern und Choreographien als geheime Datenträger missbraucht werden.
Mehr als der militärische ist der terroristische Missbrauch von Entertainment in den letzten Monaten zum Thema geworden. Seit dem 11. September 2001 konnte man viel über die Rolle lesen, die etwa im Kino entworfene Schreckensszenarien für die Choreographie von Terrorakten spielten. Nach der blutig beendeten Geiselnahme in einem Moskauer Musicaltheater vor wenigen Wochen versuchte der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider die Gemeinsamkeiten von verschiedenen Akten "expressiver Gewalt" - von Moskau über Bali bis New York und Washington - aufzuzeigen, in denen "ein zerstörtes, zerstörerisches Existenzgefühl" zum Ausdruck komme. "Die über die Welt verteilten Angriffe erzeugen trotz ihrer lokalen Zufälligkeit ein ortloses panisches Gefühl des Adressiertseins", schrieb Schneider am 29. Oktober in der "Frankfurter Rundschau". "Die gehäuft unadressierte Gewalt lässt einen virtuellen Raum entstehen, in dem sich eine globale Besorgnis zusammendrängt."
Albrecht Kunzes Stücke haben ihren Ort in diesem virtuellen Raum. Bei dem Anschlag in der Diskothek, so bekennt die Hauptfigur in "ich auf der Tretmine", sei es darum gegangen, zu zeigen, dass wir überall und in jeder Form zuschlagen können, ... dass es keinen Ort gibt, der außerhalb unserer Sache sein kann. Manches an der grotesk überzeichneten Szene erinnert an die Moskauer Geiselnahme, die sich kurz nach der Produktion des Hörstücks ereignete.
"ich auf der Tretmine", das fast als reiner Monolog angelegt ist, wirkt aggressiver und geradliniger als die früheren Stücke, doch es lässt auch die Vielschichtigkeit und den selbstironischen Ton etwa von "Golfkrieg Girls & Boys" vermissen, das auch musikalisch - zwischen dem Stakkato der Stepp-Rhythmen und ruhigeren Passagen - abwechslungsreicher gestaltet war.
Aus der über Jahre gewachsenen "Landschaft aus Text", in welche Kunze selbst seine Stücke eingebettet sieht, ragt das jüngste Produkt karg und scharfkantig hervor. Der Autor hat in der Zeit des Nachdenkens über Unterhaltungsfronten und Frontunterhaltung selbst eine relativ feste "Truppe" von Darstellern um sich geschart und von Sender zu Sender mitgenommen. Karolina Sauer, die führende Stimme in "ich auf der Tretmine", gehörte von Anfang an dazu, ihre Dialogpartnerin Elke de Boer seit "Golfkrieg Girls & Boys".
Seine für die deutsche Hörspiellandschaft ungewöhnliche Tournee brachte Kunze inzwischen mit den wesentlichen Redaktionen zusammen, die in den vergangenen Jahren die Grenzüberschreitung von Hörspiel und Popkultur vorangetrieben haben: mit der Abteilung "Hörspiel und Medienkunst" des BR, dem "Lauschangriff" sowie dem im März 2001 eingerichteten Format "pop drei" des WDR und mit Manfred Hess, der beim HR den Sendeplatz "The Artist Corner" betreut. Und die Truppe tourt weiter. Mit HR und WDR sind bereits Fortsetzungen angedacht. Arbeitstitel: "die Idee der Strafe", und "wie wir den Krieg gewannen".